Pass auf mit dem, was du dir wünschst.
I got „Stich-ed“ – Der Hund „Stich“
Letzte Nacht um vier
Plötzlich wache ich auf. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber ich musste dringend auf die Toilette. Von gestern Abend habe ich noch einiges in der Blase. In Deutschland war so ein Toilettengang noch einfach. Hier, an Tag 2 auf der Hunde-Farm auf Mallorca, ist es nicht so einfach!
Die Toiletten sind nur über den großen Hundehof erreichbar. Und mitten in der Nacht will man bekanntlich keine schlafenden Hunde wecken. Doch mein Anliegen ist dringend. Rationales Denken ist ausgeschaltet! Der Drang, mich zu erleichtern, übernimmt die Kontrolle. Mir kommt nicht einmal der Gedanke, dass die Hunde mich nicht erkennen und für einen Einbrecher halten könnten. Aber so etwas kommt mir mit einer „1-Liter-Blase“ nicht in den Sinn. Die Natur drückt, also ab durch die Mitte.
Meine ersten Erfahrungen auf der Hunde-Rettungsstation
Teilweise hatte ich große Angst, weil hier viele gerettete Hunde sind, die auch traumatische Dinge erlebt haben. Mit „auch“ meine ich mich. Ich passe gut zu diesen Hunden – von klein bis zu einem wuchtigen Rottweiler. Der Rottweiler scheint mir jedoch sehr verspielt zu sein. Es sind oft die Kleinen, die richtig zustechen. Die Rede ist vom Hund mit dem Namen „Stich“, einer kleinen, verängstigten Französischen Bulldogge.
„Stich“ hat eine schlimme Vorgeschichte. Man hatte ihn jahrelang in einem Raum eingesperrt. Nur durch einen Spalt in der Tür, durch den er gefüttert wurde, konnte er hinausschauen. Was er sah, waren: Schuhe. Den ganzen Tag sah er nur Schuhe durch den Spalt in der Tür. Darum geht „Stich“ wohl so scharf auf Schuhe los. … und jetzt betreten ein Paar Schuhe an meinen Füßen den Flur von „Stich“. Dieser Flur liegt unglücklicherweise auf dem Weg zum Badezimmer. Normalerweise ist „Stich“ in den Räumen von Maxi und Peppe eingesperrt, den Gastgebern, denen die Hundefarm gehört. Werde ich heute auch so viel Glück haben?
I got „Stich-ed“ – Der Hund „Stich“
Ich versuche, leise zu sein. In mir keimt die Hoffnung und Zuversicht, dass die Hunde mich nicht hören. Über den Hof und ganz langsam das Holztor öffnen. Das leise Quietschen ist kaum zu hören. Auf leisen Sohlen schleiche ich mich zum Badezimmer. An den schlafenden Hunden vorbei, mitten durch den Bewegungsmelder fürs Licht, und … perfekt gelaufen … Der Bewegungsmelder geht an – ebenso die Hunde. Der Hof ist jetzt hell erleuchtet, und aus der Finca werde ich von Hundegebell flankiert.
In Eile gehe ich auf den dunklen Gang zu, der zur Badezimmertür führt. Es ist nur meine Stirnlampe, die einen Lichtkegel in den dunklen Gang zum Badezimmer wirft. Ich habe Glück, alle Hunde erkennen mich. Aber zu früh gefreut. Aus der Richtung des Badezimmers höre ich, wie mir ein anderes Bellen entgegenkommt. Dieses Bellen erkenne ich sofort: Es ist „Stich“. Sein Bellen kommt irgendwo aus dem Dunkeln, immer näher.
Unter Attacke
Unter mir, zu meinen Füßen im dunklen Flur, höre ich „Stich“ mit seinem prägnanten Bellen und watschelnden Schritten. Eiskalt – scheinbar ohne Gewissen – wird wohl seine Reaktion auf mein Eindringen in sein Revier ausfallen. Die kleine Französische Bulldogge huscht immer wieder durch das Licht meiner Stirnlampe vor mir vorbei. Ich verliere ihn aus den Augen. Da! Ich sehe seinen Hintern links von mir aus dem Lichtkegel meiner Lampe springen, bevor er schließlich mit einem Satz auf meine Schuhe stürzt und daran reißt … „Stich“ zerrt. „Stich“ rüttelt an meinen Schnürsenkeln, bevor er aus dem Licht meiner Stirnlampe wieder verschwindet. Ich kämpfe mich nach vorne, doch „Stich“ versperrt mir den schmalen Gang zum Badezimmer. Alarmstufe Rot für mich. Jetzt mit der Stirnlampe in der Hand schwenke ich das Stirnband panisch vor „Stich“ hin und her. In der Finsternis der Nacht taucht im Scheinwerferlicht immer wieder „Stich“ mit seinem Kopf hervor. Ich muss an eine dieser Tiefsee-Dokumentationen mit gruseligen Tiefseefischen denken, während ich die Attacken von „Stich“ abwehre.
Zum Glück geht „Stich“ auf das verzweifelte Rumwedeln mit dem Stirnlampenband ein, und ich schaffe es unter schweren Angriffen auf die Toilette. Nachdem ich mein Geschäft erledigt habe, kämpfe ich mich wieder zurück in meinen Schlafraum. Zu meiner Überraschung unversehrt. Hätte ich das gewusst, wäre ich lieber im Garten pinkeln gegangen.
Nachtrag
Ein paar Tage sind inzwischen vergangen seit dieser Nacht. Auch wenn „Stich“ immer noch bellt, lässt er sich inzwischen von mir streicheln, und die Schuhe lässt er jetzt auch in Ruhe. So langsam kennt und vertraut er mir, und ich fange an, ihn gern zu haben.
Verfasst am 12.06.2024